Komplexe posttraumatische Belastungsstörung

Zusammenfassung aus dem Buch von Pete Walker, Complex PTSD

komplexe PTBS - umfasst Süchte, Zwänge, Dissoziationen, Coabhängigkeiten
komplexe posttraumatische Belastungsstörung - wie die Anordnung beim Vogelflug

Eine komplexe Posttraumatische Belastungsstörung ist am ehesten bei Menschen anzutreffen, die in der Kindheit unter emotionaler Vernachlässigung gelitten haben. Egal, was den Kindern im Einzelnen angetan wurde – am meisten haben sie unter der Einsamkeit gelitten. Niemand hat sie geschützt, niemand war für sie da, wenn sie Trost brauchten, niemand freute sich mit ihnen an ihren Erfolgen, niemand spielte mit ihnen.

 

Die Eltern waren zu beschäftigt, mit sich oder mit der Arbeit und haben die Kinder allein gelassen. In vielen Fällen waren sie überfordert, haben ihr Unglück an ihre Kindern weitergegeben - mit körperlicher, emotionaler oder sexueller Gewalt und das wiederholt, was sie selbst von ihren Eltern erfahren haben. Die Beeinträchtigung der Kinder kann schon vor der Geburt begonnen haben. Beziehungskonflikte, Probleme mit der Schwangerschaft, Verlassen werden wirken sich auf das werdende Kind unmittelbar aus. Anspannung, Trauer, Verzweiflung, Wut der Mutter übertragen sich auf das ungeborene Kind.

 

Die Kontroll-Verschiebung (Colin Ross) oder prähistorisierende Theorie (Fischer/Riedesser)

Kinder, die in eine lieblose Familie hineingeboren werden, können nur überleben, wenn sie sich selbst die Schuld geben. Es ist unerträglich für die junge menschliche Seele, sich einzugestehen, dass sie schutzlos willkürlicher Gewalt ausgeliefert ist. Es ist besser, die Hoffnung zu behalten, die Eltern oder Personen, von denen sie vollkommen abhängig sind, würden sich bessern, wenn nur sie selbst sich anders verhalten und keine Fehler mehr machen würden. Kinder versuchen alles, um erneuten Angriffen zu entkommen oder um gesehen zu werden.

 

 Sie können unterschiedliche Überlebensmechanismen und auch Mischformen davon entwickeln, nach dem Fight-Flight-Freeze-Fawn –Prinzip: Kampf, Flucht, Erstarrung, Unterwerfung:

 

Auf eine Bedrohung reagieren wir als Fluchttiere mit Weglaufen. Ist das nicht möglich, versuchen wir zu kämpfen, um fortzukommen. Wenn auch das nicht möglich ist, fallen wir in den Totstellreflex, erstarren und dissoziieren. Wenn die Gefahr in einer menschlichen Beziehung anhält, unterwerfen wir uns dem Täter oder der Täterin.

 

 Menschen, die zum Kampf neigen,

haben als Kind vielleicht kaum Grenzen erfahren oder von einem Elternteil ihr Verhalten imitiert. Sie haben große Angst, die Kontrolle zu verlieren und möchten, dass alles so abläuft, wie sie sich das vorstellen. Sie lassen sich kaum auf gleichwertige Beziehungen ein, sondern lehnen andere ab,  schieben ihnen die Schuld zu und verlangen bedingungslose Liebe. Dabei wiederholen sie in der Regel die Umgangsweisen der Eltern und tun ihren PartnerInnen das Gleiche an, was ihnen selbst widerfahren ist.

 

 Sicherheit erlangen sie durch Kontrolle über andere, sie halten Monologe, sind leicht aufbrausend, wütend oder ärgerlich, verlangen von anderen absolute Perfektion, während es sein kann, dass sie sich selbst für unfehlbar halten. Im Kindesalter kann es sein, dass Verhaltensauffälligkeiten auftreten. Als Erwachsene können sie eine narzißtische Persönlichkeitsstörung entwickeln.

 

Positive Eigenschaften sind Mut, Grenzen setzen können, Bestimmtheit und Führung.

 

 Menschen, die zur Flucht neigen,

flüchten sich in Arbeit oder Sport, arbeiten an ihrem Perfektionismus, können süchtig werden, da sie unermüdlich leistungsfähig sein wollen mit Aufputschmitteln, Coffein, Nikotin. Manche suchen den Kick durch Risikosportarten. Sie sind ständig in Unruhe und können Zwänge entwickeln oder eine bipolare Störung – im Auf und Ab zwischen Erschöpfungsdepression und Leistungshoch.

 

Sie reagieren mit Panik auf Trigger, mit Unruhe und Grübeln. Sie versuchen, Sicherheit zu erlangen, indem sie alles perfektionieren, bis hin zu Übertreibungen wie ständige Putzsucht oder Kleinkrämerei. Als Kinder werden sie fälschlich mit der Diagnose ADHS bedacht.

 

Positive Eigenschaften sind Engagement, Fleiß, Wissen und Durchhaltevermögen.

 

 Menschen, die zu Erstarrung neigen,

verstecken sich außerhalb der Arbeit in ihrer Wohnung und neigen zu Tagträumen, TV-Konsum, Video-Spielen und Abtauchen in andere Welten auch mit Hilfe von Drogen. Sie sind überzeugt, dass Beziehungen gefährlich sind. Sie können sich völlig in der Welt des Internets verlieren und  Online-Bekanntschaften und Pornographie pflegen.

 

 Wenn sie eine Bedrohung wahrnehmen, reagieren sie mit Dissoziation, d.h. sie stehen neben sich und nehmen sich selbst oder die Umgebung nicht mehr richtig wahr. Sie haben Angst vor Erfolg, vor der Realität und können im Extremfall eine Psychose entwickeln und in der Klinik als schizophren eingestuft werden. Wenn sie als Kind schon auffallen, bekommen sie häufig die Diagnose ADS.

 

Positive Eigenschaften sind Achtsamkeit, Aufmerksamkeit, Frieden und Gegenwärtigkeit.

 

 Menschen, die zur Unterwerfung neigen,

vermeiden emotionales Engagement und Enttäuschungen, indem sie sich nicht zeigen, sondern andere reden und entscheiden lassen. Sie verstecken sich hinter dem Helfersyndrom und rackern sich für andere ab. Indem sie sich auf die Wünsche und Bedürfnisse des Gegenübers konzentrieren, reduzieren sie das Risiko, als eigenständige Person abgelehnt zu werden.

 

Sie können eine Coabhängigkeit entwickeln, reagieren auf Trigger mit Verschmelzung und versuchen, es allen recht zu machen. Als Kinder leiden sie unter Parentifizierung, d.h. sie übernehmen die Verantwortung für das Glück ihrer Eltern, kümmern sich um Haushalt und Geschwister, übernehmen die PartnerInnenrolle bei einem Elternteil, werden oft sexuell missbraucht. Wenn sie als Erwachsene eine Beziehung eingehen, kann es sein, dass sie sich von einem Kampf-"Typen" angezogen fühlen und Opfer von häuslicher Gewalt werden.

 

Positive Eigenschaften sind Liebe und die Bereitschaft zu dienen, Kompromiss, Zuhören und Fairness.

 

 Unter den verschiedenen Bewältigungsmechanismen, die sich Erwachsene als Kinder im Laufe ihres Lebens im Elternhaus angeeignet haben, verbirgt sich eine Verlassenheitsdepression. Im Inneren tobt der innere Kritiker weiter, der die Aussagen, Beschimpfungen, Handlungen der Eltern gegen sich selbst oder gegen den Partner, die Partnerin richtet. Diese inneren Stimmen können emotionale Flashbacks auslösen – sogar ohne die Einwirkung von äußeren Triggern.

 

Menschen mit komplexer PTBS fühlen sich dann wie aus dem Nichts klein, schwach oder müde und hilflos, verlieren die Hoffnung und Energie, die sie gerade noch hatten und haben das Gefühl, dass sich ihr Leben nie mehr zum Besseren wenden wird.

 

CRM - ressourcenorientierte Traumatherapie nach Lisa Schwarz und das Innere Kinder retten von Gabriele Kahn sind besonders geeignet, um Symptome von komplexer PTBS zu lindern oder aufzulösen.

 

Wichtig ist eine vertrauensvolle Beziehung zur Therapeutin, um den Kampf gegen innere Kritiker und Stimmen aufzunehmen, ein positives Selbstbild und die Bereitschaft zu liebevollen intimen Beziehungen zu entwickeln.

 

Bei zunehmendem Gewahrsein über die Verletzungen in der Kindheit wird ein Wechselspiel von Trauer und Wut auftreten, was als Zeichen von Selbstliebe und einem Fortschritt im Prozess der Heilung angesehen werden kann.